Ein Plädoyer für Graffiti
25. März 2009, Maurice Kusber
Feindbild Graffiti-Sprayer – ein Plädoyer
Graffiti in der Öffentlichkeit stellt seit Jahren eines der umstrittensten Themen dar. Erstaunlich, wenn man berücksichtigt, dass es sich meist nur um Farbe auf Wänden handelt. Was macht das Thema so problematisch und ist es realistisch zu erwarten, dass Graffiti aus der Öffentlichkeit verschwindet? Und wäre das wünschenswert?
Graffitigeschichte
Zunächst ist klar, dass Menschen seit undenklichen Zeiten mit Werkzeugen Symbole und Kunst erstellen. Der Begriff bedeutet so viel wie “mit dem Griffel kratzen”. Denn natürlich gab es in der Urzeit noch keine Spraydosen (die erst in den 30er Jahren erfunden wurde). Graffiti im heutigen Sinne, aber mit anderen Werkzeugen, gibt es seit dem Altertum z.B. in Ägypten und den Römischen Reich. Diese geben Historikern heute teilweise wertvolle Hinweise über das Leben und das Denken der damals lebenden Menschen. Auch in der Neuzeit gab es viele interessante Beispiele, wie z.B. die bewusst erhaltenen Graffiti von russischen Soldaten im Berliner Reichstag, deren Erhalt damals auch für viel Kritik und Unverständnis sorgte.
Mit Kanonen auf Spatzen
Auffällig ist, dass Graffitis immer wieder zum Aufreger werden. So schimpfte eine CDU-Politikerin in Berlin 2002 auf Graffiti, die gegen Stoiber gerichtet waren: “Diese Tat in unmittelbarer Nähe des 11. September, des Tages, an dem der menschenverachtende terroristische Anschlag auf Amerika verübt wurde, ist auch als Anschlag auf unsere Demokratie zu werten.” Oft werden sowohl Graffiti als auch die Verletzung von Urheberrechten mit Terrorismus und Organisierter Kriminalität gleichgesetzt. Damit wird dann auch die Gangart gegen Graffiti mitbestimmt. 2005 sorgte der Einsatz von Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes für Wirbel in den Medien. Hier stellte sich wie oft die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Die Initiative KLAR SCHIFF Kiel berichtet 2003 stolz:
Gegen 21.50 Uhr teilten Anwohner der Gärtnerstraße telefonisch mit, zwei junge Männer hätten gerade ein Tor und Laternenmasten mit Farbstiften beschmiert. Mehrere Einsatzfahrzeuge machten sich auf den Weg. Im Wulfsbrook entdeckte die Beamten an einer Bushaltestelle eine fünfköpfige Gruppe Jugendlicher, darunter zwei Mädchen. Einer der Jugendlichen malte gerade sein “Tag” an eine Mülltonne. Wie sich bei der anschließenden Überprüfung herausstellte, hatten ein 16- und ein 20-Jähriger die Schriftzüge verursacht. Entsprechende Stifte entdeckten die Beamten bei den Durchsuchungen. Gegen die Beschuldigten wurden Strafverfahren eingeleitet.
Wenn hier das Sprichwort “Mit Kanonen auf Spatzen schiessen” nicht gilt, weiß ich nicht, wann sonst. Wenn das Bemalen von Mülltonen mit ein paar Filzstiften schon für einen Großeinsatz der Polizei sorgt, fragt man sich, ob die Polizei sonst nichts Besseres zu tun hat.
Graffiti als Herausforderung an unsere Gesellschaft
Die große Geschichte hinter den Graffiti ist eigentlich ein Kampf um Eigentum und öffentliche Flächen. In den meisten westlichen Ländern gibt es zum einen klares Privateigentum und darüber hinaus öffentliche Flächen, deren Nutzung von denen bestimmt wird, die die Herrschaft ausüben. Gebäudeflächen und der ölffentliche Raum insgesamt werden immer gerne zu Werbezwecken verwendet. Der einzelne Bürger kann dabei wenig darüber mitbestimmen, was wo gebaut werden darf oder welche Werbung wo hängt – von überall springen uns Botschaften an. Im Allgemeinen aber halten sich diese Botschaften an gewisse Regeln – entweder werden Werbeflächen bezahlt oder jemand baut ein neues Gebäude auf einem Grundstück, das er gekauft hat. Es gibt zwar auch so hier und da Streitigkeiten über Baugrundstücke und die Öffentlichkeitswirkung, doch werden Investoren eher selten mit Terroristen gleichgesetzt.
In den USA wird Graffiti zunehmend auch von Firmen im Sinne des Guerilla Marketings eingesetzt, wie z.B. von SONY zur Bewerbung ihrer Spielkonsole. Für so einen weltweiten Großkonzern sind die darauf zu zahlenden Strafen natürlich nur Peanuts. Vielleicht erfolgt eine bessere Anerkennung der Graffiti ja auch dann, wenn diese Aktionen von Firmen an der Tagesordnung sind?
Ist Graffiti Kunst?
Graffiti war und ist immer auch Protest gegen bestehende Verhältnisse. Und darin unterscheiden sie sich nicht von vielen Künstlern und Kunstaktionen. So wie auch ein Beuys sich mit dem etablierten Kunstbetrieb an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf anlegte. Damit sei nicht gesagt, dass jeder Graffiti-Künstler auch ein kleiner Beuys ist. Damit sei lediglich darauf hingewiesen, dass das Verletzen von Regeln und die Aneignung von öffentlichem Raum etwas ist, was sowohl zu jeder Zeit in unserer Gesellschaft passiert und es auch für den Graffiti gar keine andere Möglichkeit gibt zu überleben als gegen diese Regeln zu verstoßen. Es gibt auch Graffiti, die in Galerien ausgestellt werden. Diese stellen aber eine andere Kunstgattung dar, selbst wenn die Techniken ähnlich oder gleich sind.
Nichts was Graffiti zu eigen ist, ist einzigartig – sowohl die Regelverletzung als auch das Besetzen des öffentlichen Raumes mit Botschaften ist bei uns alltäglich. Einzigartig ist aber die Kombination, die dazu führt, dass Graffiti-Sprayer einem hohen Fahndungsdruck ausgesetzt sind. Zudem hängen viele Politiker immer noch der so genannten “Broken-Windows-Theorie” nach. Demnach sind Graffiti und zerbrochene Fensterscheiben ein Signal in einer Straße oder einem Viertel, das angeblich Kriminalität anzieht und den Verfall eines Viertels herbeiführt. Dagegen wurde die Nulltoleranzstrategie angewandt, das selbst Bagatellvergehen stark verfolgte. In New York wurde diese sehr konsequent umgesetzt. Es kam auch zu einem Absinken der Kriminalität. Allerdings passierte das zeitgleich in allen Großstädten der USA – also auch in denen ohne Nulltoleranzstrategie. In dem Buch Freaknonomics wurde die Theorie aufgestellt und statistisch untermauert, dass die Kriminalitätsrate deswegen absank, weil es wegen erlaubter Abtreibungen weniger ungewollte Kinder gab. Statistische Indizien für die Wirksamkeit einer Nulltoleranzstrategie gibt es hingegen nicht. Dennoch wird diese von vielen Law-and-Order-Politikern als belegt und alternativlos dargestellt und bestimmt oft die öffentliche Vorstellung von wirksamer Kriminalitätsprävention. Auch die vermehrte Überwachung mit öffentlichen Kameras wurde aus dieser Theorie entwickelt.
Wie viel Kontrolle wollen wir?
Im Grunde wird hier aber versucht aus einem relativ kontrollierten Raum einen hyperkontrollierten Raum zu schaffen. Politiker wie BKA-Chef Ziercke oder Innenminister Wolfgang Schäuble sind sogar der Meinung, dass es überhaupt keine unüberwachten Freiräume mehr geben sollte. Dies aber würde einer Abschaffung der Privatsphäre gleichkommen. War es früher normal, dass die Polizei nicht überall alles mitverfolgen konnte, so gilt heute, dass angeblich jede Maßnahme, die möglich ist, auch umgesetzt werden muss.
Die finanziellen Auswirkungen
In dem Zusammenhang sind Graffiti viel mehr als Rechtfertigung für eine stärkere Überwachung und Kontrolle des öffentlichen Raumes, als dass die angewendeten Maßnahmen tatsächlich die Anzahl der Graffiti im öffentlichen Raum reduzieren würden. Würde man die Finanzmittel, die sowohl zur Erschaffung als auch der Beseitigung von Graffiti angewendet werden zusammenzählen, käme man mit Sicherheit auf eine unfassbare Summe. Unfassbar vor allem deswegen, weil durch die ganzen teuren Maßnahmen, die oft letztendlich darin bestehen graue Autobahnbrückenpfeiler von Farbe zu befreien, den Graffiti niemals gänzlich aus dem öffentlichen Raum verdrängen werden. Für die oft jugendlichen Sprayer kann es aber bedeuten, dass sie jahrzehntelang für die Beseitigung entstandender Schäden zahlen müssen. Diese haben in ihrem Alter aber meist die Tragweite und das Risiko ihres Handelns gar nicht abschätzen können.
Graffiti-Sprayer und die Eigentümer von Flächen stehen in einem natürlich Widerspruch, der kaum aufzulösen ist. Zumindest dann nicht, wenn man nicht anfängt die Bedeutung und die Nutzbarkeit öffentlicher Flächen zu hinterfragen. Bei Autos sieht die ganze Sache anders aus: In unseren Städten geht ein Großteil der Flächen von Straßen und Plätzen an parkende Autos. Ein Auto abzustellen und stehen zu lassen ist aber vollkommen legal. Im Innenstadtbereich wird manchmal eine Gebühr erhoben – aber davon abgesehen hat man sich hier darauf geeinigt, dass die Bürger jede Straße und jeden Platz, der dafür geeignet ist zum Parken benutzen dürfen. Die Kosten einer Garage oder eines bezahlten Standplatzes können dagegen erheblich sein. Hier hat die Öffentlichkeit die Abwägung getroffen, dass der Gebrauch von Straßen und Plätzen im gewissen Rahmen wünschenswert ist (z.B. auch durch parkende Besucher, die die Gelegenheit nutzen in Geschäften einzukaufen). Der Umsatz den Graffiti-Sprayer generieren im Konsum von Materialien wird hingegen als nicht so wertvoll angesehen. Anders ist es mit Fabriken, die Sprühdosen herstellen, die nur für Graffiti geeignet sind. Dort arbeiten Menschen wie Du und ich, bekommen ihren Lohn und zahlen ihre Versicherung – die Spraydosen verlassen die Fabrik und gelangen ggf. zu den Kindern der Fabrikarbeiterinnen. Bedeutet es für eine Arbeiterin die Sicherung eines Einkommens inklusive Altersvorsorge Materialen herzustellen, die zur Graffitierstellung genutzt werden, so kann es für die Kinder zum finanziellen Risiko werden, das völlig legale Material und Werkzeug dem ihnen bestimmten Zweck zuzuführen. Die Gewinne der Fabrik und die Einkommenssteuer werden wiederum dafür verwandt Gerichte und Polizei zu bezahlen, die diese Kinder festnehmen und bestrafen.
Unscharfe Definitionen
Ich kann den einzelnen Hauseigentümer verstehen, der sich darüber ärgert, dass seine frisch gestrichene Wand plötzlich von Fremden vollgemalt wird – und ich kann auch seinen Wunsch nachvollziehen, diese unerwünschten Verschönerungen zu entfernen. Das Gesamtproblem des Graffiti lässt sich aber anhand eines einzelnen Beispiels nicht erklären. Falsch ist auch, wenn von vielen Seiten immer wieder Begriffe wie “Schmierereien” verwendet werden. Denn rein sachlich betrachtet schmiert da nichts. Und zum anderen ist es meist nicht die Absicht der Sprayer irgendwo etwas zu verschmutzen. Oft geht es darum etwas zu erschaffen – oft erschöpft es sich in einer Marke oder “Tag” – manchmal aber auch in dem Schaffen von einem Kunstwerk, zumindest im Auge des Künstlers – er will etwas schaffen, das gesehen wird – will kommunizieren und will Anerkennung. Dabei wohl in den selteneren Anerkennung vom Hausbesitzer. Diese werden oft von der Öffentlichkeit gedrängt Anzeige zu erstatten – eine zeitlang sah es sogar so aus, als ob man Hausbesitzer verpflichten wollte dies zu tun – was dann aber eine fundamentale Abkehr von geltenden Rechtsprinzipien gewesen wäre.
Dies soll ein Plädoyer für Toleranz gegenüber Graffiti sein. Graffiti war, ist und wird immer Teil unserer Kultur sein. Man muss es nicht lieben. Ich selbst rege mich auch über viele Dinge in der Öffentlichkeit auf. Öfter aber über verordnete Gemütlichkeit und Bausünden, als über ein paar Sprüche oder Graffiti-Kunst. Es kann nicht so weitergehen, dass die Gesellschaft Krieg gegen eine Jugendkultur und somit gegen ihre Jugendlichen führt. In so einem Krieg können nur alle Seiten verlieren. Sowohl finanziell als auch defakto an der Existenz von Graffiti. Die wird es auch in 2000 Jahren noch geben. Es wäre daher an der Zeit einen anderen gesellschaftlichen Dialog zu führen. Solange immer nur aus der eigenen beschränkten Perspektive argumentiert wird, wird es keine Lösung geben – und desto mehr werden Graffiti zum Ärgernis anstatt zu einer Bereicherung. In Wahrheit ist es nämlich die Bekämpfung der Graffiti, die zu einer Verschärfung aber nicht zu einer Lösung beigetragen hat.
Photo Quelle/Copyright: fabbio, cc creative commons, Bestimmte Rechte vorbehalten, via flickr
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